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DISPUT

Kein frischer Wind

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD atmet die Abluft des kleinsten gemeinsamen Nenners. Gerade für das Gesundheitswesen ist das fatal

Von Harald Weinberg

Die Herausforderungen in der Gesundheits- und Pflegepolitik sind groß. Gerade deshalb sind die Koalitionsvereinbarungen in diesem Bereich eine herbe Enttäuschung. Ein sozialer Aufbruch wäre dringend notwendig, um Pflegenotstand, Zwei-Klassen-Medizin und Kommerzialisierung im Gesundheitswesen zu überwinden. Statt frischem Wind atmen aber fast alle Vereinbarungen und Formulierungen die Abluft des kleinsten gemeinsamen Nenners. Nur dort, wo durch gewerkschaftliche Auseinandersetzungen oder öffentliche Skandale politischer Druck entstanden ist, reagieren Union und SPD etwas beherzter.

In der Krankenversicherung bleiben Zwei-Klassen-Medizin und wirtschaftlicher Wettbewerb erhalten. Von den vollmundigen Ankündigungen der SPD zur Bürgerversicherung ist praktisch nichts übrig geblieben. Einmal mehr ist die SPD hier als Tiger gesprungen und als Bettvorleger der Union gelandet. Eine gerechte und solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems ist nur gegen CDU/CSU, und nicht mit ihnen möglich.

Die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung ist ein guter und dringend notwendiger Schritt. Aber selbst hier konnte sich die SPD nicht konsequent durchsetzen. Die Zusatzbeiträge sollen bestehen bleiben, jetzt aber nicht mehr allein von den Versicherten, sondern paritätisch bezahlt werden. Viel sinnvoller wäre es, die Zusatzbeiträge abzuschaffen und damit den schädlichen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu entschärfen. Letztlich werden natürlich auch nicht alle Kosten paritätisch getragen, denn die unsozialen Zuzahlungen bleiben bestehen.

Im Pflegebereich zeigt sich die Große Koalition selbstgefällig zufrieden mit ihren Reformen der letzten Jahre. Damit erklärt sie einen wirklichen Kurswechsel für überflüssig und nimmt weder den Pflegenotstand noch das Recht auf menschenwürdige Pflege ernst. Entsprechend verharren die Maßnahmen in Einzelschritten oder im Diffusen. Dies durchzieht viele Bereiche der Pflege: 8.000 zusätzliche medizinische Fachkräfte in Pflegeeinrichtungen sind nicht mal eine Vollzeitstelle je Einrichtung bei 13.000 Pflegeheimen bundesweit. Eine verbindliche Personalbemessung wird weiter auf die lange Bank geschoben. Doch die Arbeits- und Versorgungsbedingungen müssen sich sofort verbessern.

Ein Bekenntnis zu allgemeinverbindlicher tariflicher Bezahlung fehlt. Zwar soll der Pflegemindestlohn im Osten endlich auf das Westniveau angehoben werden, doch über eine generelle, wertschätzende Anhebung im Bundesgebiet – kein Wort. Damit die Erhöhung der (Mindest-) Einkommen nicht von den Menschen mit Pflegebedarf gezahlt werden müssen, bräuchte es ein klares Bekenntnis zur Deckelung der Zuzahlungen. Aber auch hier: Fehlanzeige. Dabei sind die Zuzahlungen zu Pflegeheimplätzen schon seit Jahren enorm hoch, und steigen aktuell in vielen Einrichtungen drastisch an.

Überhaupt sind alle Finanzierungsfragen unklar. Die Pflegeversicherung bleibt eine Teilleistungsversicherung mit steigenden Eigenanteilen der Betroffenen. Pflegevollversicherung und solidarische Pflegeversicherung bleiben ausgeblendet.

Bewegung in Krankenhäusern Ein im Kern positives Vorhaben sticht heraus: Eine gesetzliche Personalbemessung (»Personaluntergrenze«) soll für alle bettenführenden Bereiche der Krankenhäuser festgelegt werden. Das ist ein längst überfälliger Schritt, für den wir uns seit vielen Jahren einsetzen. Allerdings sind mit der Erarbeitung die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband der Krankenkassen beauftragt. Damit wird der Bock zum Gärtner gemacht, denn beide Verbände lehnen solche Personalvorgaben ab.

In diesem Zusammenhang ist das Eingeständnis der Koalitionäre erfreulich, dass das System der Fallpauschalen zur Finanzierung der Krankenhäuser ein Holzweg ist. Die Ankündigung, die Personalkosten für Pflegekräfte jenseits der Fallpauschalen zu finanzieren, ist ein richtiger Schritt und muss auf alle Berufsgruppen im Krankenhaus ausgeweitet werden. Aber festzuhalten bleibt: Der Einstieg in den Ausstieg aus dem Irrsinn der Fallpauschalen ist geplant. Diese Entwicklung ist einzig und allein den Kämpfen und Streiks der Pflegekräfte zu verdanken. Der Druck muss weiter hochgehalten werden, wenn sich tatsächlich am Pflegenotstand in den Krankenhäusern etwas ändern soll.

Fazit: Im Koalitionsvertrag findet sich viel Schatten, wenig Licht, und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, weiter zu kämpfen. Weitere lichte Momente der Vereinbarung sind überschaubar: Vielversprechend lesen sich die Vereinbarungen zur Notfallversorgung und der Plan, die sektorenübergreifende Versorgung auszubauen. Wir begrüßen ausdrücklich das geplante Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Die Abschaffung von Schulgeld für die Ausbildung in Gesundheitsfachberufen ist längst überfällig. Bei alledem bleibt aber abzuwarten, wie viel von diesen Absichtserklärungen tatsächlich umgesetzt wird.

Vergeblich sucht man im Koalitionsvertrag auch nach Initiativen für mehr gesundheitliche Chancengleichheit und gegen die unterschiedliche Lebenserwartung von Arm und Reich. Es gibt auch keine Ideen, wie mit den explodierenden Preisen bei neuen Arzneimitteln umgegangen oder die flächendeckende Hebammenversorgung gesichert werden soll. Um diesen Zielen näher zu kommen, müsste wirtschaftlichem Wettbewerb, Kommerzialisierung und Profitmacherei in Gesundheit und Pflege konsequent der Kampf angesagt werden. Doch die Koalitionäre orientieren sich kaum am Allgemeinwohl, sondern an den Interessen von Gutverdienern und Großkonzernen. Konsequenterweise beinhaltet die Vereinbarung daher auch keine Initiativen gegen Korruption oder zum Schutz von Whistleblowern im Gesundheitssystem.

Die Auswahl des neuen Gesundheitsministers unterstreicht die gesamte Orientierung noch einmal. Der zukünftige Gesundheitsminister Jens Spahn ist nicht nur als marktradikaler Hardliner, sondern auch als Pharmalobbyist bekannt. Alle Verbesserungen – auch die kleinsten – werden also nicht von ihm, sondern gegen ihn durchgesetzt werden müssen. Aus all diesen Gründen wird DIE LINKE in den nächsten Jahren für eine soziale Offensive in der Gesundheits- und Pflegepolitik streiten und die Stimme der sozialen Opposition sein. Wir werden weiterhin dazu beitragen, dass Pflegekräfte und Pflegebedürftige aus dem Pflegenotstand einen Pflegeaufstand machen.

Harald Weinberg ist gesundheitspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag

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Bereits im vergangenen November hat die Linksfraktion den Kampf gegen den Pflegenotstand im Bundestag mit zwei Anträgen wieder auf die Tagesordnung gesetzt: »Wahlkampfversprechen erfüllen – Verbindliche Personalbemessung in den Krankenhäusern durchsetzen « (Drucksache 19/30) und »Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand in der Altenpflege « (Drucksache 19/79). Die öffentliche Anhörung zu diesen Anträgen wurde zuerst von Union und SPD blockiert und findet jetzt am 18. April statt.

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